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Offener Unterricht in der Grundschule
Unterrichtsformen
gegen
die Wirklichkeit des Grundschülers
Die
Schuldzuweisungen nach PISA I und IGLU waren seinerzeit noch nicht
verhallt, da
hagelte es nach PISA II neue Vorwürfe. Dieses Mal jedoch hatten die
verantwortlichen Bildungspolitiker ihre Verteidigungslinie sorgfältiger
vorbereitet, gerierten sich euphorisch, redeten von Anfangserfolgen und
nicht
nachlassendem Reformbemühen und weiterhin von moderner Schule, was auch
immer
das sein soll. Dabei landete Deutschland bei PISA II unter den 31
teilnehmenden
OECD-Staaten im Lesen und Textverständnis noch immer nur auf Rang 20.
Das ist
nun nicht wirklich Mittelmaß, wie man es dem Volk einreden wollte. Nach
der
Veröffentlichung der weniger bekannten Grundschulstudie IGLU beschwichtigte man seinerzeit ebenso und
verbreitete das Gerücht, Deutschland habe ganz gut abgeschnitten. In
der Tat
waren die Ergebnisse besser als bei PISA I, aber gut noch lange nicht.
Übrigens
lagen Nordrhein-Westfalen und Hessen bei IGLU (in: Wilfried Bos et al.:
IGLU.
Münster/New York/ München/Berlin 2004) in nahezu allen Ergebnissen noch
unter
bundesdeutschem Durchschnitt. Und das nach mittlerweile mehr als drei
Jahrzehnten
„moderner“ Schulpolitik, während derer
z. B. die Länder NRW und Hessen mit nicht mehr zählbaren Reförmchen und
Reformen der übrigen Republik ihre Überlegenheit in Sachen Schule
vorgaukeln
wollten.
Was eigentlich haben
bundesdeutsche Bildungspolitiker, die damals
nach der Veröffentlichung von PISA I scharenweise in das Siegerland
Finnland
auf Dienstreise gingen, von dort an Erkenntnissen mitgebracht und
umgesetzt?
Bei ernsthaftem Hinsehen hätten sie aber zum Beispiel dies
lernen können:
Die Jahresunterrichtszeit finnischer Kinder liegt noch unter deutschem Niveau und auch weit unter OECD-Durchschnitt (in: Deutsches Pisa – Konsortium [Hrsg.]: PISA 2000. Opladen 2001). Die finnische Schule ist ein Beleg dafür, wie man mit gutem Unterricht und fürsorglicher Förderung schwacher Schüler trotzdem Primus werden kann. Nachdenklich stimmt natürlich, wenn sich bei genauer Betrachtung herausstellt,
dass in
Deutschland die durchschnittliche Unterrichtszeit pro Schüler und pro
Jahr
erheblich unter dem OECD Mittel liegt – z. B. liegt in Deutschland die
Unterrichtszeit für einen 7- bis 8-jährigen Schüler bei 626 Stunden und
damit
um mehr als 160 Stunden unter dem
-Mittel
(788 Stunden) -.
Ganz offenbar haben die finnischen Schüler bei den internationalen Studien weltweit am besten abschnitten und lagen damit erheblich über den Leistungen deutscher Schüler. Nichts liegt also näher, als auch daran zu denken, dass die Ursachen für die Leistungsdefizite deutscher Schüler in einem qualitativ schlechteren Unterricht sowie in einer schlechteren Förderung zu suchen sind. Im Vergleich zum Ausland sind bei uns insbesondere Kinder mit Migrationshintergrund, Kinder aus bildungsfernen Schichten und schwache Schüler erheblich benachteiligt.
I.
Offener Unterricht: die Wurzeln
Die
Wurzeln des Offenen Unterrichts sind nicht eindeutig festzustellen, auf
jeden
Fall aber sind sie mit hohem Anteil auch zu finden in der
antiautoritären
Bewegung und in der Kinderladenbewegung der 60er und 70er Jahre des
vergangenen
Jahrhunderts. Ursprünglich ist der Offene Unterricht wohl aber
zurückzuführen
auf die pädagogische Reformbewegung der ersten Jahrzehnte des letzten
Jahrhunderts, auf die historische Reformpädagogik.
So wenig geschlossen und einheitlich diese Strömung auch war,
so geht
offenbar dennoch auch heute noch eine große Faszination von ihr aus. So
werden
denn die pädagogischen Postulate von einst auch zu Beginn des 21.
Jahrhunderts
- von einer freilich abnehmenden Anzahl von Erziehungswissenschaftlern
- noch
immer für tauglich gehalten, sie mit derselben sentimentalen Vehemenz
und im
selben sprachlichen Gewand von damals zur Inszenierung eines „neuen“
pädagogischen
Mainstreams zu nutzen: die
Neo-Reformpädagogik im ausgehenden 20. sowie in den Anfängen des 21.
Jahrhunderts. Durchaus angemessen betitelt Erziehungswissenschaftler
Winfried Böhm
seinen Aufsatz zur Neo-Reformpädagogik „Schnee vom vergangenen
Jahrhundert“
(Neue Aspekte der Reformpädagogik. Würzburg 1993.), Erziehungswissenschaftler
Heinz-Elmar Tenorth nennt die Neo-Reformpädagogik „gegenwärtige
Vergangenheit“ (in:
Reformpädagogik. Antrittsvorlesung 1992). Es
ist schon absonderlich, wenn heute nach pädagogischen Konzepten gerufen
wird,
die der veränderten Kindheit unserer heutigen Kinder gerecht werden
sollen, und
man dabei auf Konzepte zurückgreift, die mehr als hundert Jahre alt
sind.
Unstrittig ist, dass schon seit ihren Anfängen die Vorstellungen vieler
Reformpädagogen
neben realitätsfernen Träumereien auch ungeheuerliche und
menschenverachtende
Züge aufwiesen.
Die historische Reformpädagogik, die keineswegs eine geschlossene und einheitliche Strömung war, lässt sich auch in zeitlicher Hinsicht in keinen bestimmten Zeitrahmen verorten, obschon sich jedoch ohne weiteres feststellen lässt, dass die Blütezeit der deutschen historischen Reformpädagogik in die Jahre um 1890 bis ca. 1930 fällt. Die Reformpädagogik war seinerzeit keineswegs ein rein deutsches Phänomen, Impulse erhielt die deutsche Reformpädagogik zuhauf auch aus außerdeutschen reformpädagogischen Bewegungen, so z. B. von John Dewy (USA), Maria Montessori (Italien), Ellen Key (Schweden), Célestin Freinet (Frankreich).
Prof.
Wolfgang Keim formuliert die Anliegen der historischen Reformpädagogik
so (in:
Bewegung vom begüterten und rassisch gesunden Kinde aus. Frankfurter
Rundschau
1999): „Ihr zentrales Kennzeichen war die Frontstellung gegen jegliche
autoritäre,
vom Lehrer oder vom Stoff her konzipierte Erziehung, an deren Stelle
eine
Orientierung an kindlichen und jugendlichen Bedürfnissen treten sollte.
Damit
verbanden sich Ziele wie Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung,
Individualisierung,
aber auch Vorstellungen von ’Gemeinschaftserziehung’ sowie nicht
zuletzt ein
neuer, auf Ganzheitlichkeit, Entfaltung schöpferischer Kräfte und
Erfahrungsbezug hin ausgerichteter Lernbegriff“. Auf diese und ähnliche
Formeln stützte sich die reformpädagogische Bewegung
und entfesselte damit gleichsam einen Wettbewerb für
pädagogische Träumereien:
Pädagogik vom Kinde aus. Schon
damals zeigte sich, dass insbesondere die realitätsfernen Vorstellungen
von dem
unerschöpflichen Selbstentfaltungs-, Selbststeuerungs- und
Selbstbestimmungspotential in den Kindern nicht viel taugten für die
Realitäten
in Regelschulen. Nicht einmal in den vom reformpädagogischen Geist
geprägten
Eliteschulen – Wolfgang Keim bezeichnet die Bewegung der
Reformpädagogik
„vom Kinde aus“ als eigentliche „Bewegung vom begüterten und rassisch
gesunden Kind aus“ - ließen sich
die Erfolge erzielen, die mit den Heilsversprechungen der
Reformpädagogik hätten
korrespondieren können. Nichtsdestotrotz konstruieren seit mehr als
dreißig
Jahren gewisse Erziehungswissenschaftler mit hundert Jahre alten
Schlagworten
ihre Neo-Reformpädagogik und verkünden dabei Erstaunliches: den
Paradigmenwechsel in der Pädagogik. Mit der Neo-Reformpädagogik ins 3.
Jahrtausend also!
So konstituieren denn auch etwa seit Beginn der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts die Neo-Reformpädagogen (zunächst unter Mithilfe der antiautoritären Bewegung sowie der Kinderladenbewegung) verklärend und mit den Zielformulierungen von ehedem - Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung, Selbststeuerung, Individualisierung, Entfaltung schöpferischer Kräfte, ein auf Erfahrungsbezug hin ausgerichteter Lernbegriff - den „ganz anderen“, den „modernen“ Unterricht. Gemeint ist der Offene Unterricht mit offenen Unterrichtsformen wie Projektunterricht, Epochenunterricht, Freiarbeit, Stationenlernen, Werkstattunterricht, der Unterricht mit Jahrgangsmischung, ...... . Natürlich darf nicht übersehen werden, dass gewisse Ideen der historischen Reformpädagogik, befreit man sie aus den Fesseln romantisch-pathetischer Irrationalitäten, dem schulischen Unterricht nachhaltige Impulse geben konnten und können. Denken wir dabei z. B. an die diversen und in vieler Hinsicht durchaus ertragreichen gruppenunterrichtlichen Verfahren sowie an die Bemühungen um Selbsttätigkeit der Kinder oder um Differenzierung und Individualisierung, sofern sie nicht unreflektiert Bezug nehmen auf die realitätsfernen Träume am Professorenkatheder oder anknüpfen an deren sentimental-romantischen Elaboraten! Noch größeren Einfluss auf die Fortentwicklung des „individualisierenden“ Unterrichts dürften derzeit freilich die privatwirtschaftlichen Interessen von Lernmittelentwicklern und die boomende Lernmittelindustrie nehmen, die in der teilweise arglosen Lehrerschaft bereitwillige Abnehmer ihrer oft exotischen Produkte finden.
II.
Selbstbestimmtes,
selbstorganisiertes, selbstgesteuertes,
selbstregulatives, selbstreguliertes, selbstständiges
Lernen von Anfang an:
Grundschüler
bestimmen über das Was, Wann, Wie, Wie viel und Wie
lange
In der Wochenzeitung „Die
Zeit“ vom 03.05.2006 war von einem
Schulversuch in der Schweiz zu lesen:
„Die
Kantonsschule Zürcher Oberland wagt seit zwei Jahren ein mutiges
Experiment.
Die Schüler lernen ein halbes Jahr lang ohne Lehrer. Was viele
überrascht: Die
Erfahrungen sind fast durchweg positiv.
In
Deutsch, Mathematik, Chemie, Biologie, Sport und zwei Sprachen müssen
sich die
fünften Gymnasialklassen (die elften nach deutscher Zählweise) das
Wissen ein
halbes Jahr lang weitgehend selbst beibringen. Zum Schuljahresbeginn
werden sie
mit dem Lernstoff für das ganze Halbjahr versorgt. Einmal die Woche
dürfen sie
pro Fach eine Stunde lang Fragen stellen und Nachhilfe einholen. Die
Schüler
arbeiten für sich zu Hause oder mit Mitschülern in einem leeren
Klassenraum,
sie büffeln Englischvokabeln im Schwimmbad oder verbringen ihre
Sportstunde im
Wald. ....“
Bei uns
experimentiert man mit dieser Idee schon in der Grundschule - seit
langem.
Deutschland ist - gerade wenn es um Grundschulpädagogik geht -
der Welt
schon lange voraus! Der Lehrer soll selbst in der Grundschule nur
noch
eine - ziemlich undefinierte - gewisse Rolle spielen, als Coach
z. B. .
Bereits seit Jahren wird in vielen Regelschulen treuherzig und trendgemäß das praktiziert,
was auf Umsatz bedachte Verlage und
realitätsferne Vordenker des modernen Offenen Unterrichts* den
Grundschullehrerinnen seit Jahrzehnten einpauken: Schon in der
Grundschule
sollen die Kinder beim Lernen über das Was, Wann, Wie, Wo, Wie viel
und Wie
lange selber entscheiden dürfen. Besonders eignen sollen sich dazu
in der
Grundschule Unterrichtsformen wie Wochenplan, Freiarbeit,
Stationenlernen**,
Werkstattunterricht*** und Projektunterricht**** .
Allerdings ist der moderne
Offene Unterricht ein schillerndes
Phänomen, und die Definitionen für den Offenen Unterricht sind so
zahlreich wie
blumig und uferlos. Nach
Prof. Rainer Winkel (in: Offener oder Beweglicher Unterricht? Zur
Klärung einer
Misslichkeit. In: Grundschule 1993.) hat der
Terminus „Offener Unterricht“ inzwischen so eine Art
Müllschlucker-Funktion
übernommen, und alles, was so an – auch noch so abenteuerlichen –
schulischen
Ideen und Materialien auf den Markt getragen wird, wird dem modernen
Offenen
Unterricht zugeordnet. Eine den Realitäten nahe kommende Definition
des Offenen Unterrichts liefert Prof. Elisabeth Neuhaus-Siemon (in:
Offener
Unterricht in der Diskussion - eine neue pädagogische Utopie? In:
Pädagogische
Welt 1989): „Mit dem Terminus ’Offener
Unterricht’ wird ein Unterricht bezeichnet, dessen Unterrichtsinhalt,
-durchführung und -verlauf nicht primär vom Lehrer, sondern von
Interessen,
Wünschen und Fähigkeiten der Schüler bestimmt wird, wobei der Grad der
Selbst-
und Mitbestimmung des zu Lernenden durch die Schüler zum entscheidenden
Kriterium des Offenen Unterrichts wird“.
Die Ziele des modernen
Offenen Unterrichts definiert neben
unzähligen anderen Prof. Hildegard Kasper so (in: Offene
Lernsituationen. Eine
schulische Antwort auf veränderte Erziehungserwartungen. In:
Grundschule
1992.):
auf das Individuum bezogen: Stärkung des
Selbstvertrauens, Hinführung zu Selbstständigkeit, Selbstverantwortung,
Entscheidungsfähigkeit und Autonomie
auf Partner oder Gruppen
bezogen: Entwicklung von
Beziehungsfähigkeit und Einfühlungsvermögen, Entwicklung von
Interaktionskompetenzen, Entwicklung der Integrationsfähigkeit, Entwicklung von Toleranzverhalten |
|
kognitiv akzentuiert: Entwicklung und Ausbau
persönlicher Sachinteressen, Entwicklung von Lernstrategien,
Entwicklung von Kreativität und Phantasie
sozial emotional
akzentuiert: Entwicklung emotionaler
Kompetenz, sozialer (Handlungs)–Kompetenz sowie sozial orientierter
Kreativität und Phantasie |
Diese prozessorientierte
Sichtweise des
modernen Offenen Unterrichts zielt auf den Erwerb von sog.
„Schlüsselqualifikationen“ ab, die Aspekte schulischer Leistung bleiben
außen
vor.
Das ist die Maßgabe, an
der sich Grundschule
in vielen Bundesländern zu orientieren hat! Grundschule heute hat
prozessorientiert zu arbeiten. Wer nach dem Output auch nur fragt,
setzt sich
schlimmsten Anfeindungen aus. Lehrpläne wie z. B. die in den Ländern
NRW und Hessen
haben dieser Ideologie inzwischen mit ihren wachsweichen halb- oder
unverbindlichen Vorgaben für die Leistungsanforderungen Rechnung
getragen
(Siehe Anlagen zu Elternbrief Nr. 3!). In erschreckend vielen
Grundschulen
werden mittlerweile höchstrangig die Zielvorstellungen des modernen
Offenen
Unterrichts verfolgt. Dabei ist beklagenswert oft jeglicher Blick für
Lernziele
und Lernergebnisse verloren gegangen, Prozessorientierung ist das A und
O.
Besser als Dagmar Wilde (Tätigkeit in der Lehrerausbildung. Fundstelle:
Internet) kann man es kaum formulieren: „Es geht nicht vorrangig darum,
’messbare’ Leistungen zu erzielen, sondern darum, die
Leistungsbereitschaft zu
entfalten, den Leistungswillen zu stärken und die Leistungsfreude zu
sichern“.
Entsprechend stellen sich Schulen nach außen dar: „Statt Unterricht im
45-Minuten-Takt wechseln
Konzentrations- und Entspannungsphasen. Auch für selbstinitiierte
Tätigkeiten,
für Spiel und Erholung finden die Kinder Raum. In den ersten vier
Jahren gibt
es keine Noten. Die Leistungen der Kinder werden ’prozessorientiert’
bewertet“
(Evangelische Schule Lichtenberg Berlin. Fundstelle: Internet).
Zu Recht beanstanden immer
wieder Eltern, dass sich der moderne
Offene Unterricht ihrer Kinder oft darstellt als eine
„Stillbeschäftigung bei
hohem Lärmpegel“ und die darin
entstandenen „Arbeitsergebnisse“ ohne
jegliche Korrektur oder andersgeartete Würdigung in einer Mappe
versteckt, in
Form eines Portfolio gesammelt, in einem „Buch“ geheftet oder einfach
als
Ansammlung von Blättern bald irgendwo den Papierabfällen zugeordnet
werden. Wie
beklagenswert selten bei „offen“ gestalteten Schülerarbeiten auf Gewissenhaftigkeit,
Sorgfalt, Sauberkeit, etc.
geachtet wird, ist den meisten Eltern schon lange aufgefallen.
Alles ist irgendwie
„gut“, das Tadelnswerte wird nicht getadelt, das „Lob“ wird zur
nichtssagenden
Floskel. Kinder spüren schon bald, dass
sie nicht wirklich ernst genommen werden und reagieren entsprechend. Beunruhigt sind Eltern
auch darüber, dass Überprüfungen dessen,
was die Kinder denn nun wirklich
gelernt haben, immer seltener werden.
Nun hat das aber aus plausiblen Gründen die „offen“ unterrichtenden
Lehrerinnen
auch nicht zu interessieren: Im modernen Offenen Unterricht geht es –
wie oben
gesehen - nur wenig darum, "’messbare’ Leistungen zu
erzielen“, denn
„die Leistungen
der Kinder
werden ’prozessorientiert’ bewertet“. Wissen ist da weniger gefragt, es
geht vorrangig
um den Prozess, um die Methode, die in Wirklichkeit oft weniger eine
Methode
als ein Spektakel ist.
Zu fragen ist natürlich:
Mit welcher Logik eigentlich läuft ein
prozessorientierter Unterricht ab, bei dem der Output keine - oder
höchstens
eine untergeordnete Rolle spielen
soll? Allein sinnvoll wäre es, am Ende
determinierter Abschnitte bzw. nach überschaubaren oder länger
andauernden Lernprozessen die Ergebnisse
gründlich
auszuwerten und danach – je nach Notwendigkeit – darüber zu
entscheiden, in welchem
Umfang die Prozessbedingungen - dazu gehören ganz ohne Zweifel auch die
Unterrichtsformen - zu verändern sind.
Eine solche Überprüfung kann man sich allerdings ersparen, wenn es in
der
Grundschule tatsächlich nicht mehr auch um Lernergebnisse gehen sollte.
Zur Einschätzung vieler
Eltern, dass
moderner Offener Unterricht „Stillbeschäftigung
bei hohem Lärmpegel“ sei, ist
nachzutragen, dass neueren
wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge Leistungen dann stets stark
beeinträchtigt werden, wenn es im „Hintergrund“ des Klassenraumes zu
Störeffekten kommt. Wenn es um Gespräche im Hintergrund eines Raumes
geht,
macht es keinen Unterschied, ob man das Gesprochene inhaltlich versteht
oder
nicht: „Man gewöhnt sich nicht an den Störeffekt von dem
Hintergrundschall“
(Bernhard Hofmann [Hrsg.]: Übergänge. Berlin 2005). Darüber hinaus
wurde in den
Untersuchungen zu dieser Problematik herausgefunden: „Es wird den
Versuchspersonen
nicht bewusst – aber die Leistung ist trotzdem schlechter“.
Als besonders interessante
Spielwiese
für die kühnen Phantasien zum modernen Offenen Unterricht und das
wirtschaftliche Kalkül der Lehr- und Lernmittelerfinder erweist sich
zunehmend
der sog. individualisierende Schriftspracherwerbsunterricht. Besonders
zu
nennen sind da die Methoden „Tinto“ von Rüdiger
Urbanek, die „Rechtschreibwerkstatt“ von
Norbert
Sommer-Stumpenhorst sowie „Lesen durch Schreiben“ von
Jürgen Reichen. Auch da geht es natürlich ausschließlich
prozessorientiert zu.
Der prozessorientierte
individualisierende Schriftspracherwerbsunterricht mit dem ihm
zuzuordnenden
Freien Schreiben kann indes für Kinder (und Eltern) besonders fatale
Folgen
nach sich ziehen. In Elternbrief Nr. 7 wird dargestellt, wie Eltern von
Kindern
in Klasse 4 aus allen Wolken fallen, wenn dann ganz plötzlich doch über
Leistung geredet werden muss – vor dem Übertritt in die weiterführende
Schule.
Dass die offen unterrichtenden Grundschullehrerinnen die in sieben
Bundesländern obligatorischen Vergleichsarbeiten in Klasse 3 (VERA)
nicht
sonderlich schätzen, ist leicht nachzuvollziehen: Schließlich werden da
viele
Kinder zum ersten Mal in ihrer schulischen Laufbahn auf ihre Leistung
überprüft. Das Magazin „Der Spiegel“
wusste im Juli 2006 davon zu berichten, dass Grundschullehrerinnen vor
dem Test
- nachdem sie sich die Aufgaben auf illegalem Weg besorgt hatten -
gezielt mit
ihren Kindern übten oder ihnen während der Tests massive Hilfe boten.
Bekannt
ist auch, dass Schulleiterinnen bisweilen den Tipp geben,
bei der Auswertung der Testarbeiten nicht so
genau hinzuschauen.
Wenn die
eifrigen Streiter für den modernen Offenen Unterricht immer wieder
verkünden,
es bedürfe heute ganz anderer Schlüsselqualifikationen als zu früheren
Zeiten,
haben sie damit keineswegs Recht. Nicht ganz andere
Schlüsselqualifikationen
sind heute gefragt, sondern die Palette wichtiger
Schlüsselqualifikationen ist
größer geworden. Es ist nicht zu bezweifeln, dass die Gesellschaft
hinsichtlich
Werteverhalten, Familie, Arbeitswelt und Freizeitverhalten einen
galoppierenden
Wandel durchmacht, dass Menschen heute – spürbarer vielleicht als in
den
letzten Jahrzehnten - mit existenzbedrohenden, nicht einschätzbaren
Gefahren
konfrontiert werden: Arbeitslosigkeit, Gefahren durch Klimawandel und
Umweltverschmutzung, atomare Gefährdung, Terror. Auch Kindheit hat sich
in den
letzten Jahrzehnten verändert: Kinder heute leben in
veränderten „sozialen Strukturen“, wachsen
auf in einer„Medienwelt“, entwickeln zunehmend unterschiedliche
„Kindheitsmuster“. Und auch das gehört dazu: In beklagenswert
zunehmendem
Ausmaß wird in immer weniger Elternhäusern – sowohl vor als auch
während
der Schulzeit der Kinder - auf das Erreichen wichtiger Schlüsselqualifikationen hingearbeitet. Eher ist das
Gegenteil der Fall. Wer aber glaubt, die veränderten Kinder in der
Schule per
„moderner“ Unterrichtsform und mit den romantisch-pathetischen
Vorstellungen der Reformpädagogik des
ausgehenden vorletzten und des beginnenden letzten Jahrhunderts an die
heute
erforderlichen Schlüsselqualifikationen heranführen zu können,
erliegt einem
verhängnisvollen Irrtum.
Die heute von
der Wirtschaft genannten und über Familie, Kindergarten und Schule
anzustrebenden Schlüsselqualifikationen sind zweifelsohne auch solche,
die
schon vor über 50 Jahren jungen Menschen zu einem erfolgreichen Start
in den
Beruf oder ins Studium verhelfen konnten. Vergleicht man diese mit den
Zielvorstellungen der Vertreter des modernen Offenen Unterrichts
(oben), ist
dies Anlass genug, in eine große Nachdenklichkeit zu verfallen.
Klare
Vorstellungen von dem, was Schule zu leisten hat, haben offenbar eher
außerschulischen
Instanzen:
So stellen
IHK/ Wirtschaft sich qualifizierte Haupt-/Realschüler vor (Quelle:
Internet):
I.
Grundlegende
Beherrschung der
deutschen Sprache in Wort und Schrift
Beherrschung einfacher
Rechentechniken
Grundlegende
naturwissenschaftliche
Kenntnisse
Hinführung zur Arbeitswelt
-
Grundkenntnisse wirtschaftlicher Zusammenhänge
Grundkenntnisse in Englisch
Kenntnisse und Verständnis über
die Grundlagen unserer Kultur
II.
Zuverlässigkeit
Lern- und
Leistungsbereitschaft
Ausdauer -
Durchhaltevermögen -
Belastbarkeit
Sorgfalt -
Gewissenhaftigkeit
Konzentrationsfähigkeit
Verantwortungsbereitschaft
-
Selbständigkeit
Fähigkeit zur Kritik und
Selbstkritik
Kreativität und
Flexibilität
III.
Kooperationsbereitschaft
- Teamfähigkeit
Höflichkeit -
Freundlichkeit
Konfliktfähigkeit
Toleranz
Das Erreichen dieser
Ziele/Qualifikationen muss zwingend spätestens in der
Grundschule
angebahnt werden, letztlich hängen davon auch die Bewährung am
Arbeitsplatz und
die Studierfähigkeit ab. Bemerkenswert ist allerdings schon, dass in
der
letztgenannten Aufstellung viele Qualifikationen genannt werden, die
sehr wohl
schon entscheidend für erfolgreiche Arbeits-/Lernprozesse in der Schule
sind,
aber in den oben dargestellten Zielvorstellungen für den modernen
Offenen
Unterricht überhaupt nicht auftauchen: Zuverlässigkeit,
Lern- und Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Durchhaltevermögen,
Belastbarkeit,
Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, Konzentrationsfähigkeit,
Verantwortungsbereitschaft,
Fähigkeit zur Selbstkritik. Das hat natürlich Gründe! Wenn Kinder im
modernen
Offenen Unterricht sich z. B. selbst aussuchen dürfen, an welchen
Aufgaben in
welcher Reihenfolge sie arbeiten wollen, wie lange sie daran arbeiten
wollen,
an wie vielen Aufgaben der Angebotspalette
sie arbeiten wollen, können natürlich auch später Zuverlässigkeit,
Lern- und
Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Durchhaltevermögen, Belastbarkeit,
Konzentrationsfähigkeit, Fähigkeit zur Selbstkritik keine
Beurteilungskriterien
sein.
Erziehungswissenschaftler
warnen immer
wieder davor, Kindern zu früh eine weitreichende
Selbstbestimmung zuzumuten. Zu groß ist die Gefahr,
dass Kinder immer wieder ausweichen und
eher ihren jeweiligen Befindlichkeiten nachgehen mögen als etwas
leisten zu
wollen – zumal wenn sie über längere
Zeit das Gefühl kultivieren dürfen, mit solchem Verhalten ganz gut
leben zu
können. Qualifikationen wie Lern- und Leistungsbereitschaft, Ausdauer,
Belastbarkeit und Durchhaltevermögen können ganz sicher so nur
schwerlich
entwickelt werden. Bald schon wird sich dieser Verhaltensmodus so
verfestigt
haben, dass geradezu Anspruch auf ein solches Verhalten erhoben wird.
Eine Ablehnung
jeglicher dezidierter Leistungsanforderung ist dann die Folge. Es führt
kein Weg daran vorbei, dass Kinder von Anfang an dazu
angeleitet werden,
auch unabhängig von ihren aktuellen Bedürfnissen und ihrer persönlichen
Interessenlage eine verlässliche Leistungsfähigkeit und
Arbeitsbereitschaft aufzubauen,
d. h. sie müssen lernen, innerhalb
gesetzter
Zeitgrenzen Arbeitsaufträge zuverlässig auszuführen, ganz gleich, ob
sie der
inhaltlichen Seite des Arbeitsauftrags ein besonderes Interesse
entgegenbringen
oder eher nicht. Nie dürfen schon bei Kindern Lern- und
Leistungsbereitschaft, Ausdauer, Belastbarkeit und Durchhaltevermögen
etc. in
eine Abhängigkeit von bestimmten Tätigkeiten mit von ihnen erwünschten
Inhalten
geraten. Nur
so können Kinder rechtzeitig für ihren weiteren Schul- und späteren
Lebensweg vor einer Einstellung bewahrt bleiben, die auf einer
„Lebenslüge“ für
Kinder beruht. In
der pädagogischen Wertediskussion werden
diese Qualifikationen auch als inhaltsunabhängige Werte
bezeichnet,
deren Bedeutung für den weiteren Schul- und späteren Lebensweg nur die
wenigsten Schüler, erst recht nicht Grundschüler, richtig einschätzen
können.
Dass die sog. intrinsische Motivation - also wenn sich
interessengeleitete
Motivation und zu lernender Inhalt im Gleichklang befinden - von
ausschlaggebender Bedeutung für den Lernerfolg sei, hat sich übrigens
längst
als falsch erwiesen (Franz E. Weinert [Hrsg.]: Leistungsmessungen in
Schulen.
Weinheim und Basel 2001).
Karikierend sei der Kritik
an der
prozessorientierten Ausrichtung des modernen Offenen Unterrichts noch
hinzugefügt: Es ist nicht auszudenken, was aus Mozart oder Beethoven
geworden
wäre, wenn deren Väter ihnen Klavier, Geige und Noten ins Kinderzimmer
gestellt
bzw. gelegt hätten mit dem Ansinnen „Nun mach mal schön!“.
Musikfreunde, die deren Biographien kennen,
wissen, dass sich die Genialität Mozarts und Beethovens nur unter
stetiger
personaler Anleitung und straff geführter Aufsicht ihrer Väter
entfalten
konnte. Mit Prozessorientierung war da nichts.
*Ich
unterscheide zwischen modernem Offenen Unterricht und
traditionellem Offenen Unterricht (Kreisgespräch, angeleitete
Einzel-/Partnerarbeit, angeleiteter Gruppenunterricht in den
verschiedensten Ausprägungen, Projektunterricht).
**Die
Grundidee des Lernens an Stationen
besteht darin, dass ein Thema in Teilgebiete untergliedert wird, die
von den
Schülerinnen und Schülern an verschiedenen Stationen selbstständig
bearbeitet
werden sollen. Zu jedem inhaltlichen Schwerpunkt werden verschiedene
Arbeits-
und Lernangebote bereitgestellt. In der Regel dürfen die
Schülerinnen
und Schüler die Arbeits-/Lernaufgaben selber auswählen, über den Umfang
ihrer
Arbeit selber bestimmen und die Ergebnisse auch selbst überprüfen und
korrigieren (Fundstelle: Internet/Verfasser
unbekannt).
***Im
Werkstattunterricht, der gewisse Ähnlichkeiten mit dem Stationenlernen
aufweist, bearbeiten die Schüler
selbstständig
nach Wahl unterschiedliche Aspekte
eines Themas. Jeder Schüler ist Experte für einen bestimmten Bereich.
Der
Lehrer stellt zu einem Thema Lern-/Arbeitsangebote zusammen.
Werkstattunterricht
wird über zwei bis drei Wochen geplant und macht 50% des Unterrichtes
aus. Die
Ergebnisse sollen in der Regel ohne Lehrerhilfe bearbeitet und
kontrolliert
werden (Fundstelle: Internet/Verfasser
unbekannt).
****Der Projektunterricht wird im übernächsten Kapitel mit Hilfe eines Beispiels erklärt.
III.
Materialzentrierte
Beschäftigungsorgien
an Deutschlands Grundschulen
Kommerzgeleitete Individualisierung*- und Differenzierung**
In einer fordernden
Leistungsgesellschaft muss schon für die Grundschule die
Leistungserziehung ein
hochrangiges Mandat sein. In der Grundschule werden in jeder Hinsicht
Grundsteine für die weitere schulische Laufbahn gelegt. Grundschule ist
nicht
Kindergarten! Grundschullehrerinnen, die nicht von Anfang an auch
Leistungen
einfordern und das Erreichen inhaltsunabhängiger Qualifikationen wie Zuverlässigkeit, Lern- und
Leistungsbereitschaft, Ausdauer,
Durchhaltevermögen, Belastbarkeit, Konzentrationsfähigkeit, Fähigkeit
zur
Selbstkritik etc. nicht rechtzeitig anbahnen, versäumen Entscheidendes.
- Auch
hier gilt Prof. Manfred
Spitzers, des wohl bekanntesten deutschen Hirnforschers,
Forschungsresultat:
„Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. In neurobiologischer
Hinsicht
ist diese Volksweisheit längst eingeholt und auf vielfache Weise
bestätigt“
(Lernen - Gehirnforschung und die Schule des Lebens. Heidelberg/Berlin
2002). - Dazu
gehört
auch die Qualifikation „Selbstständigkeit“ –
womit jedoch nicht schon für das frühe
Kindesalter „Selbstbestimmung“ um jeden Preis gemeint ist.
Selbstbestimmung
kann in der Schule höchstens denjenigen eingeräumt werden, die
mindestens zu
einer realistischen Selbsteinschätzung fähig sind. Eine Untersuchung
Prof.
Andreas Helmkes in 1997 zeigte, dass die Mehrheit der Grundschüler bei
Schuleintritt kaum über ein Fähigkeitskonzept verfügt, das der Realität
entspricht: So schätzten sich in den von ihm untersuchten Klassen 60%
aller
Erstklässler als Klassenbeste ein (in: Entwicklung im Kindesalter.
Weinheim
1998). Zu vermuten wäre, dass über die Grundschulzeit hinweg zunehmend
alle
Schüler ihr eigenes stabiles Fähigkeitskonzept mit einer realistischen
Selbsteinschätzung entwickeln könnten, das ist aber nicht der Fall.
Vielmehr
verläuft die Entwicklung bei sehr vielen Kindern beträchtlich
schwankend und
oft unterschiedlich in den einzelnen Schulfächern – warum das so ist,
lässt
sich nur vermuten. Nach Prof. Helmke kann eine falsche
Selbsteinschätzung dazu
führen, „dass die notwendigen Lernanstrengungen gar nicht mehr
unternommen
werden, weil der Lernerfolg für selbstverständlich gehalten wird.“
(ebd.).
Natürlich darf man
Schülern, die sich
selber nicht richtig einschätzen können, es nicht allzu häufig
überlassen,
darüber selbst zu bestimmen, was, wann, wie, wie viel
und wie lange sie lernen wollen. Das
Vermögen, sich selbst einschätzen zu können, hängt aber ganz sicherlich
auch
von dem vorhandenen Grad an Selbstvertrauen ab. Nicht erst seit gestern
ist bekannt, dass Kinder aus sozial
benachteiligten Schichten, Kinder mit körperlichen Fehlbildungen, mit
psychischen Fehlentwicklungen und viele Kinder mit
Migrationshintergrund oft
über weniger Selbstvertrauen verfügen. Es zeugt
von Unverstand, bei diesen Kindern von vorne herein auf
Selbstbestimmung zu
setzen, sie müssen vielmehr auf lange Zeit behutsam geführt werden.
Lauthals
verkünden die Streiter für den Offenen Unterricht und für das selbstbestimmte,
selbstorganisierte,
selbstgesteuerte, selbstregulative Lernen, wie sehr in
den letzten Jahren die Heterogenität in den ersten Klassen angewachsen
sei, wie
unterschiedlich bei den einzelnen Kindern also die Ausgangsbasis für
das
Dazuzulernende sei. Ohne
weiteres und heftig, aber argumentationslos insistierend nehmen
Verfechter des
Offenen Unterrichts jedoch für alle Kinder eine Art naturgegebener
Homogenität für die Fähigkeit an, mit der sie alle gleichermaßen
vom ersten
Schultag an
selbstinitiiert, eigeninitiativ, eigenverantwortlich, selbstbestimmt
und
selbststeuernd lernen und auf eben
diesem Wege sich sogar das Lesen und Schreiben selbst beibringen
könnten.
Der pädagogische Gedanke
der
Individualisierung* ist ja nicht falsch, und es ist geradezu verlockend
daran
zu denken, wenn sich nach dem Prinzip ’Nicht allen das Gleiche‘,
sondern ‚Jedem das Seine‘ Chancengerechtigkeit
herstellen ließe. Verfolgen wir nicht weiter den Gedanken, dass der
moderne
Offene Unterricht sich auch das Soziale Lernen als Ziel gesetzt hat.
Dass sich
die Ziele Soziales Lernen und Individualisierung allerdings kaum im
Gleichklang
verfolgen lassen, bedarf nicht langwieriger Erläuterungen. Bedenken
sind
gerechtfertigt, wenn Reinhold Christiani für alle Kinder die
„Individualisierung der Lernziele und der Lernwege statt normierter
Anforderungen“ propagiert (in: Jahrgangsübergreifend unterrichten.
Berlin
2005). An anderer Stelle lässt er H .& H. Zehnpfennig gar
postulieren:
„Passen Sie ihre Kinder nicht an das Curriculum an, sondern das
Curriculum an
ihre Kinder!“ (ebd.). Jedem Kind also
sein eigenes Curriculum, seine eigenen Lernziele - zieldifferentes
Lernen für
alle. Normative Ansprüche könnten dann natürlich nicht mehr formuliert
werden.
Wozu also dann noch Lernstandserhebungen wie bei VERA?
Die Befürworter des modernen Offenen
Unterrichts wissen das natürlich, und wollen Leistungsmessungen –
quantitative
Erhebungen- am liebsten bis ins Erwachsenenalter aufschieben. Sie
verlangen
prozessorientierte Bewertungen in „qualitativer“ Hinsicht, die das
Fortschreiten eines Lernprozesses fokussieren. Mit ihren
prozessorientierten
Formulierungen und mit blumigen Redewendungen desinformieren
Grundschullehrerinnen
so die Eltern lange Jahre über den wirklichen Leistungsstand ihrer
Kinder (in:
Elternbrief Nr. 7). Eltern kennen dieses Phänomen aus den
Zeugnisformulierungen
für ihre Kinder, wenn Sie denn regelmäßig nachfragen müssen: „Und wie
steht
meine Tochter jetzt?“.
Bei
konsequent durchgeführter Individualisierung in allen Fächern sowie
einem
konsequent Offenen Unterricht, in dem jedes Kind über das Was, Wann,
Wie, Wie
viel und Wie lange selbst bestimmen darf, kann natürlich am Ende der
Grundschulzeit nicht erwartet werden, dass die Lernstände der einzelnen Kinder nahe beieinander liegen -
eher ist das Gegenteil anzunehmen. Schon in 2003 gibt Prof. Wolfgang
Einsiedler zu bedenken, dass
mit der Aufgabe
zielgleichen Lernens „zwangsläufig ein zentrales Ziel schulischer
Bildungsarbeit
– Verbesserung der durchschnittlichen Leistungen und Verringerung
der
Leistungsstreuung im unteren Bereich – “ aufgegeben wird (Wolfgang
Einsiedler:
Unterricht in der Grundschule. In: K.S. Cortina et al.: Das
Bildungswesen in
der BRD. Reinbek 2003). Untersuchungen
von Prof. D. Katzenbach et al. haben
auf eindrucksvolle Weise gezeigt, dass in zieldifferent unterrichteten
Klassen
Rückstände kaum mehr aufzuholen sind und eine hohe Leistungsstreuung
erhalten
bleibt (D. Katzenbach et al. in: Die integrative
Grundschule. 1999).
Es bedarf keiner besonderen prophetischen Gaben vorherzusagen, wie dann
nach
der Grundschulzeit die Schulkarrieren vieler Schüler/Schülerinnen an
den
weiterführenden Schulen enden und ihre Lebensbiographien ohne eigenes
Verschulden ruiniert werden. Von einer Verbesserung der
Chancengerechtigkeit durch
modernen Offenen Unterricht kann da nun wirklich nicht die Rede sein.
Nicht mehr überbietbare
Individualisierung hieße: jedem Kind
sein eigener Lehrplan, jedem Kind also seine eigenen Lernwege und Lernziele
statt normierter
Anforderungen, jedem Kind seine eigene Lehrerin. Das ist natürlich aus
Kostengründen nicht möglich, aber darüber hinaus auch nicht unbedingt
wünschenswert.
Grundschulen in Deutschland haben daher von der an wachsendem Umsätzen
interessierten Lehr- und Lernmittelindustrie die Steilvorlage bekommen,
Individualisierung mit Hilfe der von ihr in unübersehbarer Fülle
angebotenen
Arbeitsmaterialien durchzuziehen. In den Vereinigten Staaten, wo
übrigens der
Offene Unterricht längst kein Thema mehr ist, gilt bundesweit seit 2001
das
Gesetz „No Child Left Behind“. Danach sind für den Unterricht nur noch
solche
Methoden und Materialien zugelassen, deren erfolgreicher Einsatz
empirisch
nachgewiesen ist. Damit folgen die Amerikaner für den pädagogischen
Bereich
einer ansonsten auch bei uns selbstverständlichen Praxis, Verfahren
oder
Materialien erst dann flächendeckend freizugeben, wenn sie in aller
Gründlichkeit getestet wurden. Bei uns sind die weitaus meisten
Unterrichtsmaterialien Autorenprodukte, so Prof. Jürgen Oelkers, und
somit
keinen nennenswerten empirischen Kontrollen unterworfen. Jeder bei uns
darf
seine weder staatlich noch wissenschaftlich überprüften
Unterrichtsmaterialien
mit unlauteren Heilsversprechungen und mit cleverem Geschäftssinn in
den Handel
bringen. Als Kaufanreiz reicht bisweilen schon aus, wenn der Anbieter,
Erfolg
versprechend, behauptet, das angepriesene Konzept sei in dreißig
Klassen
„erprobt“ worden – so z. B. macht es Sommer-Stumpenhorst (in: Richtig
Schreiben
lernen von Anfang an. Berlin 2001). Nach Belieben dürfen
die Schulen alles einkaufen, was der Markt so an
Materialien hergibt, und einsetzen dürfen sie es dann natürlich auch. Man begnügt sich mit Einschätzungen und hält
Materialien und Methoden schon dann für besonders tauglich, wenn jemand
ihnen
das Prädikat „modern“ erteilt hat. Bei uns sind Unterrichtsmaterialien
und
–methoden weit davon entfernt, auch nur ansatzweise nach den
wissenschaftlichen
Maßstäben Validität, Reliabilität und Objektivität überprüft worden zu sein. Dürften auch Ärzte bei uns in dieser
Manier agieren und ungeprüfte Medikamente sowie am
Schreibtisch
ausgedachte Behandlungsmethoden flächendeckend einsetzen, sprächen wir
von
einem Skandal.
In
Zeiten, da lehrergesteuerte Unterrichtsmethoden in der Grundschule noch
überwogen - denen ja schon seinerzeit nicht nur der Frontalunterricht,
sondern
auch traditionelle Formen des Offenen Unterrichts wie das
Kreisgespräch, die angeleitete
Einzel- und Partnerarbeit, der angeleitete Gruppenunterricht in den
verschiedensten Ausprägungen zugerechnet wurden - , hatten Lehrer vor
jedem
Unterricht und in Hinblick auf eine konkrete Klasse eine Vielzahl von
Überlegungen anzustellen und weitreichende Entscheidungen zu treffen:
Welche
Ziele sollen erreicht werden? Ist der Inhalt/das Thema so ausgewählt,
dass ich
mit dessen Hilfe die gesetzten Ziele erreichen kann? Welchen größeren
Sinn-
oder Sachzusammenhang vertritt oder erschließt der Inhalt? Welche
Bedeutung hat
der Inhalt bereits im Leben der Kinder, welche Bedeutung sollte er
darin haben?
Worin liegt die Bedeutung des Themas für die Zukunft der Kinder? Welche
Strukturen hat das Thema (die Sache)? Welches sind die besonderen
Ereignisse,
Situationen, Versuche, in oder an denen die Struktur des Inhalts den
Kindern
interessant, fragwürdig, begreiflich, anschaulich, eben zugänglich
werden kann?
Wie steht es mit den Lernvoraussetzungen? - (Fragestellung in Anlehnung
an
Prof. Wolfgang Klafki, Didaktiker) – In welcher Abfolge sollen die
Einzelaspekte eines Themas an die Kinder herangetragen werden, damit sich für sie ein sinnvolles Gesamtbild
ergibt? Welche Unterrichtsform ist im Hinblick auf die konkrete Klasse,
auf die
stofflichen Einzelaspekte, auf die Ziele des Unterrichts an welcher
Stelle
erforderlich? An welcher Stelle können die Kinder selber
aktiv/mitgestaltend
beteiligt werden? An welcher Stelle sollen welche Medien eingesetzt
werden?
Welche Arbeitsmittel/Arbeitsblätter können/müssen/sollen in der
konkreten
Unterrichtssituation für die konkrete Klasse vorbereitet werden?
Lernmittelverlage
täuschen heute den Grundschullehrerinnen vor, solche Fragen hätten sie
ihnen
abgenommen mit ihren Materialien, und das sogar für den
individualisierenden
Unterricht.
Wer
individualisierend Materialien einsetzt, muss selbstverständlich darauf
achten,
dass sie auch wirklich passen, d. h. auf das Individuum zugeschnitten
sind. In
der Pädagogik ist da von „Passung“ die Rede. Im Gegensatz zu Finnland
haben wir
in Deutschland nahezu an keiner Schule geeignete Fachkräfte, die bei
den
Kindern punktgenau Lernstände/Defizite diagnostizieren könnten, um
danach beim
Einsatz von Materialien bzw. bei der Förderung ebenso punktgenau und
individuell eingreifen zu können. In Deutschland haben Lehr- und
Lernmittelindustrie
ihre Lösung gefunden, den abenteuerlichsten Materialien zur
„Individualisierung“
Eingang in die Grundschulen zu verschaffen, von Diagnostizieren ist da
nicht
die Rede. Bei den modernen Formen Offenen Unterrichts werden derzeit
die Kinder
vor vorfabrizierte Arbeitsmaterialien und Arbeitsblätter gesetzt, deren
Ideengeber nicht die geringste Vorstellung von den konkreten Kindern -
in einer
konkreten Klasse, in einer konkreten Schule - haben, die sie bearbeiten
sollen.
Individualisierung! Sie haben die Kinder in „schneller lernende“ und
„langsam
lernende“ (= Kinder mit Lernverzögerung) eingeteilt und versorgen mit
derselben
Einheitskost alle Kinder gleichermaßen: Die einen lernen damit
langsamer, die
anderen damit schneller. So heißt es denn letzten Endes doch wieder:
„Allen das
Gleiche!“.
Aber
das ist auch die Philosophie der Entwickler der Selbstlernkonzepte für
den
Spracherwerbsunterricht: Es gibt nur
„schneller lernende“ und „langsam lernende“ Kinder. Diese Philosophie
eignet
sich auch hervorragend dazu, Eltern bis in die vierte Klasse über den
wahren
Leistungsstand ihrer Kinder hinwegzutäuschen. Der Aspekt, dass bei
Kindern eine
Vielzahl weiterer individueller Ausprägungen über ihr individuelles
Lernen bestimmt,
wird offenbar kommerziellen Gesichtspunkten geopfert. Neben Eingangskönnen und
Eingangswissen der Lernenden wären auch deren
„Lerngeschichte“, die Zugehörigkeit zu einem bestimmtem Lerntyp, der
Lernstil,
die emotionale Reife, die soziokulturellen und anthropogenen
Voraussetzungen zu
erfassen, ganz sicherlich gehören dazu auch Krankheitssymptome
jeglicher Art.
Festzustellen wären ebenso die Lern- und
Leistungsbereitschaft, das Ausdauerverhalten, das Durchhaltevermögen,
das
Belastbarkeitspotential, die Konzentrationsfähigkeit und
selbstverständlich
auch, was besonders wichtig ist, der vorhandene Grad an Selbstvertrauen
und
Selbstständigkeit.
Der
Offene Unterricht im Schriftspracherwerb nimmt insofern eine
Sonderstellung
ein, als er die besonderen inhaltlichen Strukturen der
unterschiedlichen
Lernfelder berücksichtigen und ebenso den individuellen sprachlichen
Entwicklungsstand/das individuelle sprachliche Bewusstsein (z. B. das
Erkennen
von Lauten, Silben, Wörtern und Sätzen oder das Operieren mit Reimen)
sowie
eventuell vorhandene sprachliche Beeinträchtigungen bedenken müsste. Vor dem
Einsatz von Materialien für den selbstgesteuerten Schriftspracherwerb
wären von
besonderer Bedeutung z. B. auch Erkenntnisse um regionalspezifische
Beeinträchtigungen der (Aus-) -sprache
(Dialektfärbung, defizitäre Grammatik), besondere Merkmale der
Sprachkompetenz/-entwicklung, der Lautbildungskompetenz (besonders bei
Kindern
mit
fremdsprachlichem Familienhintergrund). Dazu
gehört natürlich
auch die Erfassung der Kinder mit anatomisch oder sonst wie
bedingten
Hörfehlern, mit anatomisch oder sonst wie bedingten Aussprachefehlern, mit – wie auch immer
bedingten –
Störungen auf dem Weg vom Hören zum
Sprechen. Es ist also ziemlich unsinnig und verantwortungslos, die
Kinder
einfach nur in „schneller lernend“ und „langsam lernend“ zu
differenzieren. ADS-Kinder,
die über eine hohe Intelligenz verfügen, gehören sehr oft zu den
langsamen
Lernern, für sie ist der Offene Unterricht schlichtweg ungeeignet.
Der derzeit propagierte
moderne Offene Unterricht zur
Individualisierung, der in der Fachwelt bezeichnenderweise auch
„materialgeleiteter
Unterricht“ genannt wird, verwendet in der Mehrheit vorfabrizierte
Materialien,
die zur wirklichen Individualisierung herzlich wenig taugen.
Erziehungswissenschaftler Prof. Jürgen Oelkers übt herbe Kritik an der
eindimensional ausgerichteten Methodengläubigkeit mancher
Lehrer/Lehrerinnen:
„Es ist ein grundlegender Irrtum anzunehmen, mit bestimmten Formen des
Unterrichts
seien alle Schüler gleich gut bedient, wobei Grundschullehrkräfte
vielfach
annehmen, die offenen Formen seien gegenüber den strukturierten die
eigentlich
geeigneten, weil sie »schülerbezogen« und »aktivierend« erscheinen“
(in: Wie
man Schule entwickelt. Weinheim 2003). Wie
sich unschwer aus den Ranglisten bei IGLU herauslesen
lässt, sagt
das Nominelle von Unterrichtsmethoden oder Unterrichtsmaterialien
jedoch noch wenig über ihre
tatsächlichen
Qualitäten und Effekte aus. Wenn das so wäre, müsste die deutsche
Grundschule
ein Erfolgsmodell sein.
Dem Begriff
nach „offen“ zu unterrichten verlangt von Lehrerinnen heute nicht
unbedingt
besondere Anstrengungen. Einschlägige Verlage versorgen sie heute mit
„fertigen“ Lernwerkstätten für 19,50 €, die „Obst-Werkstatt“ etwa für
die
Kinder der kleinen Landschule wie auch für die der städtischen
Brennpunktschule
oder die der vorwiegend von Migrantenkindern besuchten Stadtschule. Den
Lehrerinnen bleibt nur das Kopieren. Manche Verlage möchten ihren
Abnehmern die
Arbeit mit ihren Materialien versüßen: Sie versprechen den
Lehrerinnen
Ruhepausen für die Zeit, in der die Kinder arbeiten.
Es gibt
Lehrerinnen, die den modernen Offenen Unterricht mit seinen
Arbeitsmaterialien
und Arbeitsblättern, besonders dann, wenn es sich um Fertigware von
irgendwelchen Verlagen handelt, für pädagogische Showveranstaltungen
halten.
Sie ziehen eine behutsame Öffnung des Unterrichts vor, arbeiten mit
einer
Mixtur aus frontaler Unterrichtsarbeit, aus Kreisgespräch, angeleiteter
Einzel-
und Partnerarbeit sowie aus angeleiteter
Gruppenarbeit in den verschiedensten
Ausprägungen. Sie
entscheiden sich damit bewusst gegen die Fehlformen modernen Offenen
Unterrichts. Und sie ziehen den frontalen Unterricht dem
materialgeleiteten
Offenen Unterricht dann erst recht vor, wenn die Materialien wegen
ihrer
einengenden Aufgabenstellungen offensichtlich nicht mehr zu bieten
haben als
der als 'fremdbestimmt' und 'lehrerzentriert' gebrandmarkte
traditionelle
Unterricht und sie zudem - in einer bestimmten Situationen - den
frontalen
Unterricht, etwa aus arbeitsökonomischen Gründen, für sinnvoller
erachten. Ihre
ablehnende Entscheidung könnten sie auch trefflich begründen mit eben
denselben Worten, mit
denen Peter Petersen Anfang der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts die
verborgenen „Qualitäten“ in den Arbeitsmaterialien für
seinen
'Offenen
Unterricht' beschrieb: „ Der Lehrer verlockt durch die Arbeitsmittel
den
Schüler zu einer Übernahme, die die denkbar größte Bindung für den
Schüler bedeutet;
denn – indem sich der Schüler durch die Arbeitsmittel ’frei und
selbstständig’ bildet, erfüllt er gerade die fest umgrenzten klaren
Absichten des Lehrers; er führt die vom Lehrer in die Arbeitsmittel
versenkten
Befehle gehorsamst aus; er geht, wie kaum sonst, genau den Weg des
Lehrers“
(Peter Petersen: Führungslehre des Unterrichts.
Braunschweig/Berlin/Hamburg/München/Kiel/Darmstadt.1963).
Erforschendes,
entdeckendes Lernen wird sich kaum in der Schule an vorfabrizierten
Arbeitsmaterialien von der Stange initiieren lassen, eher schon an
außerschulischen Lernorten wie z. B. am Bach, wo sich vielfältige
Aktivitäten
für das Erkunden mit Becher, Sieb und Lupe anbieten. Und wenn es darum
geht,
dass sich Schüler auch einmal pures Faktenwissen erarbeiten sollen?
Selbst
erarbeitetes Wissen soll besser behalten werden, heißt es. Das kommt
allerdings
ganz darauf an, wie damit in der Schule umgegangen wird! Werden
Arbeitsergebnisse
im Offenen Unterricht nicht aufgearbeitet, wird ihnen keinerlei
Beachtung - auch
nicht in inhaltlicher Hinsicht - geschenkt, werden
Arbeitsblätter schon
bald dem Abfall zugeordnet, gibt es keine weiteren übenden
Verarbeitungen oder
Wiederholungen, wird das erarbeitete Wissen in keiner Weise den Weg
gehen, den
es gehen sollte: ins Langzeitgedächtnis.
*“Individualisierung“
heißt, mit unterrichtlichen Mitteln Kinder individuell fordern und
fördern. In
Deutschland ist damit in der Regel an die individuelle
Förderung für alle durch die eine
Lehrerin in
der Klasse gedacht. In Finnland wird individuell gefördert und
gefordert, indem
in Klassen mit über 20 Kindern der Lehrerin eine Assistentin zur Seite
steht
und beide, je nach Erfordernis, die Schwächeren unterstützen oder den
Stärkeren
voranhelfen. Darüber hinaus werden in finnischen
Schulen
die Leistungsdefizite der schwachen Schüler von Fachkräften punktgenau
diagnostiziert, dann werden die Kinder in Kleingruppen mit bis zu vier
Kindern
oder in Einzelunterricht hausintern von Speziallehrern an die erwarteten
Leistungen herangeführt. Mit dieser Form der Individualisierung
haben die
Finnen gezeigt, wie man schwächere Schüler nicht außen vor lässt.
**Bei
„Differenzierung“ unterscheidet man in „äußere Differenzierung“ und
„Binnendifferenzierung“. Die heterogene (leistungsunterschiedliche)
Klasse wird
in homogene (leistungsgleiche bzw. leistungsähnliche) Gruppen
unterteilt, mit
entsprechenden Materialien werden dann die einzelnen Gruppen entweder
außerhalb
der Klasse oder, bei „Binnendifferenzierung“, innerhalb
der Klasse gefördert. Die „äußere Differenzierung“
ist für
deutsche Grundschulen nicht vorgesehen, offenbar deshalb nicht, weil
jede
Außengruppe von jeweils einem weiteren Lehrer geführt werden müsste. Anstatt dessen setzt die deutsche Pädagogik
auf „Binnendifferenzierung“ , die jedoch von finnischen Lehrern für
völlig
ineffektiv gehalten wird.
IV.
Projektunterricht:
eine
missverstandene und unpopuläre Form Offenen Unterrichts
Eigentlich
gehört der Projektunterricht auch längst zu den traditionellen
Unterrichtsformen, die bereits um die Mitte des letzten Jahrhunderts
regelmäßig
in unseren Schulen praktiziert wurden. Ältere Lehrer/Lehrerinnen werden
sich
erinnern, dass Projekte damals noch den Ansprüchen „Lehrer und Schüler
machen
Unterricht“ genügen wollten und tatsächlich fächerübergreifende und
durch ihre
lebensbezüglichen Ausgangssituationen für alle Beteiligten motivierende
Veranstaltungen waren. In beklagenswerter Breite hat heute der
Projektunterricht
- dies insbesondere ausgerechnet bei vielen Verfechtern des modernen
Unterrichts - an Bedeutung verloren. Was heute in vielen, ja - wie zu beobachten ist - sogar in den
meisten Fällen als Projektunterricht benannt wird, sind einseitig von
Lehrern/Lehrerinnen durchgeplante und gesteuerte Thementage oder
-wochen, die
im Ergebnis oft nur darauf abzielen, als krönenden Abschluss den
Schülereltern
Schau und Show zu bieten, allzu häufig eine solche in potemkinscher
Manier.
Schon vor über dreißig
Jahren, als von Offenem Unterricht
noch nirgendwo die Rede war, kam es
nicht selten vor, dass auch schon einmal eine junge Referendarin den
Blick für
den „fruchtbaren Augenblick im Bildungsprozess“ hatte und ihren
Unterricht
öffnete. So hatte Frau S. in der zweiten Klasse einer städtischen
Grundschule
ihrem Fachleiter eine Deutschstunde „vorzuführen“. In ihrer
lehrerzentriert
geplanten Unterrichtsstunde wollte sie ihre Kinder mit dem Gebrauch des
Adjektivs in der Funktion des Attributs vertraut machen.
Grammatikstunde mit Sprachbuch und
Arbeitsblättern, also: rot – Auto > das rote Auto, klein – Junge
> ein
kleiner Junge, schließlich auch: lecker – saftig - Apfel > ein
leckerer
saftiger Apfel.
Ein Schülerin brachte
schließlich den Stein ins Rollen. Sie
zeigte auf und berichtete der Klasse und ihrer Lehrerin, dass sie sich
ein
Kätzchen gewünscht hatte und daraufhin mit ihren Eltern in der
Tageszeitung die
Tieranzeigen durchsucht habe. Und da habe sie es gefunden: ein
„niedliches
schwarzhaariges Schmusekätzchen“. Auch andere Kinder hatten schon
solche
Anzeigen gelesen, auch solche unter der Rubrik „Tauschbörse“, und
berichteten
nun davon. Die Lehrerin ging auf all die lebhaften Wortmeldungen ein,
griff
einige der Beispiele auf und schrieb sie an die Tafel: neues
Mädchenfahrrad –
gepflegtes wasserdichtes Hauszelt - .... . Eine weitere Schülerin
meldete sich
zu Wort: „Können wir hier auch mal ’ne Tauschbörse machen? Ich habe da
eine
Idee!“. Frau S. ließ gottlob von ihrer
Planung ab und konnte sich kaum der lebhaft vorgebrachten weiteren
Ideen
erwehren. Nun nahm der Projektunterricht seinen Lauf:
An
diesen
Kriterien (nach Prof. Herbert Gudjons) musste sich dieses „Miniprojekt“
messen
lassen:
Eines hat Prof. H. Gudjons
bei seiner
Auflistung allerdings vergessen: Unterricht wie dieser, produktorientiert/ergebnisorientiert
ließ die Kinder - sogar im Deutschunterricht - ein motivierendes
Werkerlebnis
haben. Vielleicht sollte ein solcher Unterricht sogar die wirkliche
Erlebnispädagogik
repräsentieren! Außerdem: Bei Schülern und Lehrerin waren Sensibilität,
Motivation und Lust gewachsen, Unterricht wieder einmal gemeinsam zu
planen. Und weil es zum
Projektunterricht heißt: „Lehrer und Schüler machen Unterricht.“,
durfte
natürlich in der Folgezeit auch die Lehrerin bisweilen ein Projekt
anstoßen.
Mit diesem Projekt hatte
Frau S. aber darüber hinaus nicht nur
Wesentliches für ihren Sprachunterricht geleistet, die Kinder nämlich in den wirkungsvollen Gebrauch des Attributs
einzuführen, sie hat darüber hinaus die Kommunikationskompetenz
gefördert, die
zugleich auch soziale
Handlungskompetenz ist. Schon zeitig in der Grundschule – ab der
zweiten Klasse
etwa - müssen Kinder lernen, dass man mit Texten bestimmte Absichten
verfolgen
kann, dass Texte sich an (konkrete) Adressaten richten, dass Texte ganz
sicherlich nicht „auf selbstbestimmte Weise“ und "irgendwie"
geschrieben werden dürfen – dass
Texte nicht einfach nur Texte sind, die z. B. folgenlos im Papierkorb
enden.
Schon Kinder in der Grundschule müssen wissen: Das, was ich – jetzt
oder später
- an/für einen Kommunikationspartner
schreibe, muss diesen ansprechen/erreichen und für ihn zumutbar sein:
Der Text
muss einer bestimmten Form entsprechen (Ordnung, Sauberkeit), er muss
verständlich sein (Aufbau, Satzbildung, erkennbare Schreibabsicht, mit
einer
Rechtschreibung, die [zunächst mindestens] eindeutig die Wortbedeutung
zu erkennen gibt), er muss
lesbar sein (lesbare Schrift). Das ist die Messlatte, mit der
Kommunikationskompetenz als soziale Handlungskompetenz gemessen wird!
Und auch
das sollen Kinder beizeiten wissen: Mit ihren Texten können sie
Reaktionen
herausfordern. Auch das ist soziales Lernen!
Projektunterricht ist eine
unpopuläre Form Offenen Unterrichts
geworden, obschon mit diesem Unterricht Gestaltungs- und Lernziele
erreicht
werden können, die weit über das hinausgehen, was für den üblichen und
lauthals
propagierten modernen Offenen Unterricht formuliert wird. Bei keiner
anderen
Unterrichtsform wie dem Projektunterricht wachsen Kindern auf
ungekünstelte
Weise so viele Freiräume zur Mitbestimmung und Mitgestaltung zu, dass sie es eigentlich verdient hätte, die in der
demokratischen Schule präferierte Unterrichtsform zu sein.
Vielleicht hat dieser Offene Unterricht den
Fehler, dass in ihm produktorientiert, d.
h. ergebnisorientiert gearbeitet wird, vielleicht aber
liegt sein
Mangel auch ganz einfach darin, dass für den oben gezeigten
Projektunterricht
keine vorfabrizierten Materialien/Arbeitsblätter angeboten werden. Nach empirischen Untersuchungen zum
Projektunterricht liegt derzeit der Anteil des wirklichen
Projektunterrichts am gesamten
Unterricht nur bei etwa 0,5%.
Moderner
„Projektunterricht“ heute ist in der Regel eine
lehrergesteuerte Themenwoche:
Lehrerkonferenz/„Wir
machen eine ‚Projektwoche’ “ – Festlegung des
Themas d. die Lehrerinnen – Festlegung der Einzelthemen d. die
Lehrerinnen –
Bildung der Arbeitsgruppen (zunächst wählen die Kinder frei aus/die
Lehrerinnen
steuern nach) – eine Woche Auflösung der Klassen, anstatt dessen
„Projektunterricht“
in Gruppen - Präsentation der Ergebnisse durch die Lehrerinnen am
Wochenende
danach: Filme, Fotos, Bilder, Plakate, Gebasteltes, Abgeschriebenes,
Fotokopiertes, etc. . Schau und Show, dazu Kaffee und Kuchen. Ende der
„Projektwoche“.
V.
Studien
belegen: Moderne Offene Unterrichtsformen
ignorieren
die Wirklichkeit des Grundschülers
Anhänger des Offenen
Unterrichts sind
gegen vergleichende Untersuchungen durch unabhängige Wissenschaftler
Wenn Grundschullehrerinnen
Eltern etwas vom modernen Unterricht
vorschwärmen, verfallen auch etliche
Eltern in das Denkmuster: „Jetzt wird alles gut!“. Dabei ist „modern“
ja
alles andere als ein Wertbegriff! Was gestern noch modern war, ist
heute längst
der Vergänglichkeit anheim gefallen. Und auch die „modernen“
Selbstlernmethoden“ zum Schriftspracherwerb haben nach Überzeugung
ernst zu nehmender
Grundschuldidaktiker längst ihre Halbwertzeit überschritten.
Dass hierzulande Termini
wie „traditioneller Unterricht“ und
„Frontalunterricht“ oder „lehrerzentrierter Unterricht“ zu
diskriminierenden
Kampfbegriffen geworden sind, beklagte der vor drei Jahren verstorbene
Direktor
des Max-Planck-Instituts für psychologische Forschung in München, Prof.
F. E.
Weinert, immer wieder vergebens (u. a. in: F. E. Weinert [Hrsg.]:
Leistungsmessungen in Schulen. Weinheim und Basel 2001). Dabei gehört
die
Diskussion Offener Unterricht versus Direkte Instruktion in vieler
Hinsicht zu
den absurdesten Phänomenen deutscher Schulpädagogik. Gewiss, einige der
namhaften Vertreter des modernen Offenen Unterrichts haben sich
inzwischen ihre
Hintertüren zu einem einigermaßen geordneten Rückzug geöffnet. Wenn der wohl bekannteste deutsche
Didaktiker Prof. Hilbert Meyer in seiner letzten Buchveröffentlichung
(in: Was
ist guter Unterricht? Berlin 2004) bekennt: „Ich muss auf meine alten
Tage
umlernen. Die Über- oder Unterlegenheit bestimmter Unterrichtskonzepte
lässt
sich zur Zeit empirisch nicht nachweisen.“, ist das nicht einmal die
halbe Wahrheit.
Prof. Herbert Gudjons setzt seine neue Offenheit für Bewährtes noch
pointierter
in Szene: Seiner Veröffentlichung in 2003 gibt er den Titel
„Frontalunterricht
– neu entdeckt“ (Bad Heilbrunn 2003). Auch Prof. Rainer Winkel warnt
vor einer
Unterschätzung des Frontalunterrichts: "Die beste Voraussetzung
für einen
beweglichen Unterricht (= Offenen Unterricht, Anm. des
Autors) mit
einem flexiblen Methodeneinsatz ist die Beherrschung eines
guten Frontalunterrichts, den es zunächst zu lernen gilt. Ehe man also
ungewöhnliche Häuser baut, sollte man ganz gewöhnliche zu konstruieren
gelernt
haben!" (in:
Offener
oder Beweglicher Unterricht? Zur Klärung einer Misslichkeit. In:
Grundschule
1993.)
Die
Reflexionsbasis des erfahrungsgemäß beklagenswert militanten Werbezugs
für den
modernen Offenen Unterricht mutet abenteuerlich an: Die Praxis des
modernen
Offenen Unterricht wird damit gerechtfertigt, „dass
der pädagogisch-didaktische
Ansatz der ’Öffnung des Unterrichts’ sich als ein Konstrukt aus
theoriegeleiteter Perspektive als plausibel und für die Realisierung
des Bildungsauftrags
der Grundschule als brauchbar erweist. (Prof. Petra Hanke:
Öffnung des Unterrichts
in der Grundschule. Münster 2005)“. Seit
nahezu 40 Jahren „erweist“ sich also inzwischen dieses
Konstrukt
„aus theoriegeleiteter Perspektive“ für die Grundschule als „brauchbar“,
nur: Weder in Deutschland noch im gesamten angloamerikanischen Raum
oder
darüber hinaus gibt es auch nur eine einzige Studie, die belegen
könnte, dass
der moderne Offene Unterricht in der Grundschule auch nur annährend
gleich hohe
Schülerleistungen hervorbringen kann wie der traditionelle bzw. der
lehrergesteuerte Unterricht (= Direkte Instruktion).
Selbst brennende Befürworter des modernen Offenen Unterrichts
wie
Prof. Eiko Jürgens, Bielefeld, räumen das mittlerweile ein, sie äußern
sich
jedoch nur sehr zurückhaltend und unkonkret, wenn sie anerkennen
müssen, dass bezüglich
der erreichten Schülerleistungen der lehrergesteuerte
Unterricht dem Offenen Unterricht „tendenziell“ überlegen zu
sein „scheint“ (in: Die ‘neue’
Reformpädagogik und die Bewegung Offener
Unterricht. Sankt Augustin 1996.). Des ungeachtet gelten für
Prof. Hanke
dieser „pädagogische Ansatz“ und die derzeitige Verbreitung des
modernen
Offenen Unterrichts als ein „wesentlicher Indikator für
Unterrichtsentwicklung
und Grundschulreform“. Wenn in nahezu
40 Jahren die Theorie des Offenen Unterrichts es nicht geschafft hat,
solche
Unterrichtsformen zu entwickeln, die auch in der Praxis alle Schüler
einer Grundschulklasse
dahin führen, dass sie zumindest die gleichen Leistungen erzielen wie
die aus
traditionell geführten Klassen, stellt sich die naheliegende Frage: Wie
lange
müssen Kinder in Deutschland noch darauf warten, effektiv unterrichtet
zu
werden? Schließlich ließe sich – die derzeitigen Verhältnisse
karikierend –
jetzt fragen: Wie und in welchem Maße müssen unsere Kinder schon vor
ihrer
Grundschulzeit ummodelliert werden, damit sie dann in der Schule für
den
modernen Offenen Unterricht mit seinen vielen Fehlformen zu
brauchen/gebrauchen
sind?
Für Prof. Hanke liegen die
Gründe für die Misere des Offenen
Unterrichts aber nicht bei den Kindern, sondern bei den Lehrerinnen.
Daher will
sie bei diesen nämlich jetzt neue „pädagogisch-didaktische
Kompetenzen
wie Beobachtungs-, Deutungs-, Beratungs-, Förder-, Differenzierungs-
und
Reflexionskompetenzen auf der Basis fundierten sachanalytischen,
entwicklungs-
und kognitionspsychologischen sowie pädagogisch-didaktischen Wissens“
aufbauen
und entfalten. Offenbar aber mag Prof. Hanke auch einer solchen
Professionalisierungskampagne
noch nicht so ganz trauen und in ihr nur zweifelnd den erlösenden
Garanten für
den Durchbruch des modernen Offenen Unterrichts sehen: „Auf diese Weise
kann
es möglich werden, [.....] schließlich die Chancen eines
offenen
Unterrichts konstruktiv auszuschöpfen“. Warten
wir noch einmal 40 Jahre? Insgesamt scheinen die
insistierenden
Thesen von Prof. Hanke zu belegen, dass es ihr eigentlich gar nicht um
Kinder
geht, sondern um die flächendeckende Einführung des Offenen Unterrichts
– und
das auch gegen die Wirklichkeit der Grundschüler. Diesen Eindruck
hinterlassen
übrigens auch andere Verfechter des modernen Offenen Unterrichts mit
einer geradezu kinderfeindlichen
Argumentation.
An dieser Stelle noch
einmal der Vergleich mit der Medizin: Wäre
es denkbar, dass in Deutschland über 40 Jahre hinweg Ärzte ihre
Patienten mit
Methoden behandeln dürften, die nachweislich, also aufgrund
wissenschaftlicher
Untersuchungen, traditionellen Behandlungsmethoden unterlegen sind?
Gewiss, die
Situation ist eine andere: Der falschen ärztlichen Behandlung folgt
erkennbar
schon bald darauf eine nicht zu verheimlichende Verschlechterung des
Patientenzustandes, bei falsch unterrichteten Kindern werden die Folgen
u. U.
erst nach Jahren sichtbar.
Schon 1988
weist Prof. Slavin (Educational Psychology: Theory into practice. Englewood Cliffs 1988)
darauf hin, dass
Offener Unterricht zu Lasten des Lernfortschritts beim Lesen, Schreiben
und
Rechnen geht und dem Lernfortschritt gewisse Grenzen gesetzt sind.
Gerade für den Anfangsunterricht wird schon länger mit
eindeutigen Aussagen
von der
Überlegenheit traditioneller Unterrichtsformen berichtet (in: Ch.
Klicpera/B.
Gasteiger Klicpera: Psychologie der Lese- und Schreibschwierigkeiten.
Weinheim
1998): “Wenn am Ende der 1. Klasse die Auswirkungen der beiden
Unterrichtsarten
auf den schulischen Fortschritt der Kinder bestimmt wurden, zeigte sich
ein
klarer Vorteil des traditionellen Unterrichts“.
Prof. Wolfgang Schnotz
formuliert vorsichtig, aber dennoch dezidiert:
„Beim Erwerb von Grundfertigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen
sind dem
Offenen Unterricht relativ enge Grenzen gesetzt“ (in: Pädagogische
Psychologie.
Weinheim 2006).
Prof. Agi
Schründer-Lenzen, Berlin, (Schriftspracherwerb und
Unterricht. Opladen 2004) greift Befunde aus dem angloamerikanischen
Raum auf
und fasst in Anlehnung an das Konzept „direct instruction“ von Prof. B.
Rosenshine (in: Content, time and direct instruction. Berkeley 1979)
folgende
Kernelemente effektiven Unterrichts zusammen:
(in: Schriftspracherwerb
und Unterricht. Opladen 2004)
Prof. Schründer-Lenzens
Fazit: „Lehrer, die in dieser Form
’direkt’ unterrichten, erreichen bei ihren Schülern den höchsten
Lernzuwachs“.
Damit sind alle Schüler gemeint. Auch die
Harvard - Professorin Jeanne Chall (in: The Academic Achievement. New York/London 2002)
kommt zu dem
Ergebnis, dass der lehrerzentrierte Unterricht zu wesentlich besseren
Leistungen führt als die “progressiven Unterrichtsmethoden”. Zuvor
hatten schon Prof. R. Murnane und Prof. F. Levy (in: Teaching The New
Basic
Skills. New
York 1996)
durch Untersuchungen belegen können, dass „produktives Unterrichten“
dem
selbstorganisierten Lernen weit überlegen ist. Belegt ist mittlerweile
auch bei
uns, dass lehrerzentrierter Unterricht besonders die Schüler aus
unteren
sozialen Schichten besser fördern kann. Gewiss können besser begabte
Kinder vom
Offenen Unterricht profitieren, aber alle anderen, insbesondere die mit
den
schlechteren schulischen Voraussetzungen, sind
bei offenen Unterrichtsformen die Verlierer.
Lernpsychologen warnen
schon seit vielen Jahren vor dem wachsenden Schereneffekt als Folge
Offenen
Unterrichts: Die Kluft zwischen „guten“ und „schlechten“ Schülern wird
immer
größer, so auch Prof. Andreas Krapp/Prof. Bernd Weidenman (Andreas
Krapp/Bernd
Weidenman [Hrsg.] in „Pädagogische Psychologie“ .Weinheim 2001.). Sie
geben
außerdem zu bedenken, dass der Offene Unterricht es
oft an Anleitung und Unterstützung der Lernenden fehlen lässt,
was besonderes bei Schülern mit ungünstigen Lernvoraussetzungen zu
Desorientierung und Überforderung führen kann. Die Unterrichtsforscher
und
Erziehungswissenschaftler Prof. F. E. Weinert/Prof. A. Helmke
(Entwicklung im
Grundschulalter. Weinheim 1998) und Prof. W. Einsiedler (in:
Grundschulforschung.
1999) wiesen bereits vor zehn Jahren darauf hin, dass leistungsschwache
Schüler
auf besonders effektive Leistungsarrangements angewiesen sind.
Dagmar Tews,
eine junge Wissenschaftlerin der Universität Kiel, legt mit ihrer
Dissertationsschrift „Der sogenannte Offene Unterricht vor dem
Hintergrund
schultheoretischer, curricularer und
psychologischer Kriterien“ [2000] nach
akribischen Untersuchungen zur wissenschaftlichen Befundlage eine
wegweisende
Betrachtung zur Machbarkeit Offenen Unterrichts in der Grundschule vor:
In angloamerikanischen
Primarschulen hat der Offene
Unterricht – entgegen anderslautenden Beteuerungen- seit dem Ende der
siebziger
Jahre des letzten Jahrhunderts kaum mehr Bedeutung: Das mag an den
Ergebnissen
aus der Bennett-Studie gelegen haben (Bennett, N.:
Unterricht und Schülerleistung. Stuttgart 1979). Auch Bennett kam
seinerzeit zu dem
Ergebnis, dass traditionell unterrichtete Schüler höhere Leistungen in
den
Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben und Mathematik erbringen. Dass
offen unterrichtete
Kinder sich kreativer verhalten als traditionell unterrichtete, konnte
er per
Studie als Märchen entlarven, und dass auch hochbegabte Kinder bei
kognitiven Inhalten
von einem gut strukturierten traditionellen Unterricht in besonderem
Maße
profitieren können, war auch nicht erwartet worden. Auffallend war
allerdings
dies: Eine der untersuchten offen unterrichteten Klassen fiel
durch ihre
guten Ergebnisse auf. Bei genauem Hinschauen fand man heraus, dass die
Kinder
dieser Klasse sowohl von dem sorgfältig durchdachten Curriculum als
auch von
dem gut strukturierten Unterricht und gewissenhaft ausgesuchten
Unterrichtsmaterial profitiert hatten. Umgekehrt kommt das natürlich
auch vor:
Bisweilen gibt es bei Untersuchungen auch in der traditionell
unterrichteten
Gruppe schon einmal einen „Ausreißer“ mit unerfreulichen Ergebnissen.
Deshalb
wird ja nie auch nur eine Klasse gegen eine andere Klasse
untersucht,
stets werden aus mehreren Klassen bestehende Gruppen miteinander
verglichen.
Nur so führt eine Studie zu Aussagen, die verlässlich sind. Insgesamt
gilt aber
ohne Einschränkungen, wie auch durch weitere Studien in
angloamerikanischen
Schulen belegt ist, dass traditionelle Unterrichtsformen – offenbar
wegen ihrer
durchweg besseren Strukturiertheit - den
offenen überlegen sind.
Im Gegensatz
insbesondere zu angloamerikanischen Ländern hat Deutschland keine
Tradition in
vergleichender Grundschulforschung. Die Ursachen sind vielfältiger
Natur, aber
wenn es um die Erforschung der Wirksamkeit des modernen Offenen
Unterricht
geht, sind die Gründe recht
eindeutig bestimmbar: Es gibt „vor allem
unter den Anhängern des offenen Unterrichts erhebliche Widerstände
gegen vergleichende
Untersuchungen durch unabhängige Wissenschaftler. So wird
beispielsweise
argumentiert, die Ergebnisse eines schülerzentrierten Unterrichts
könnten nicht
mit quantitativ empirischen Methoden erfasst werden, da es stets um
qualitative, ganzheitliche Veränderungen gehe und die eigentlichen
Lernerfolge
sich vor allem in schwer fassbaren Persönlichkeitsentwicklungen
manifestierten
[Roßbach: Empirische Pädagogik. 1996.]“ (Peter May in: Untersuchung
lernförderlicher Merkmale des schriftsprachlichen
Unterrichts in der Grundschule. 1999). Prof. Peter May sieht
darin eine „Abschottung gegenüber
empirischer Überprüfung des Lernerfolgs“,
die nichts anderes ist als „eine Form der Selbstimmunisierung“, die
„Raum für beliebige
Spekulationen und Erfolgszuschreibungen lässt“.
In den in Deutschland zum
Offenen Unterricht durchgeführten
Studien geht es in aller Regel nicht darum, Erkenntnisse über die
Schülerleistungen in traditionell bzw.
offen unterrichteten
Klassen zu gewinnen, um sie dann vergleichen zu können. Danach wären
nämlich
„harte“ Fakten zu erwarten. In Deutschland befassen sich
Grundschulstudien
derzeit noch durchweg vorrangig mit dem oben beschriebenen
prozessorientierten
Lernen. In einer Internetveröffentlichung (1997/1998) der Universität
Bielefeld
stellte der glühende Befürworter moderner offener Unterrichtsformen, Prof. Dr. Eiko Jürgens,
ein
Forschungsprojekt vor, das beispielhaft alle Züge vieler weiterer
ähnlicher Studien
aufweist:
Böse Zungen behaupten,
dass Forschungsergebnisse aus solchen
Studien dasjenige bestätigen und damit legitimieren, was ohnehin
gewollt ist.
Richtig ist, dass Erkenntnisse bei solchen Studien nahezu allesamt
ausschließlich aus Beobachtungen, Einschätzungen und Folgerungen
gewonnen
werden, d. h. auf subjektive Wahrnehmung zurückzuführen sind. Zu Recht
wird
daher auch argumentiert, dass Zuwächse z. B. beim selbständigen oder
sozialen
Lernen (etc.) nicht wirklich messbar
sind und höchstens vermutet werden können.
VI.
Traditioneller Unterricht ist schlecht – Offener
Unterricht
ist gut
Blinde
Eiferer auf beiden Seiten schaden den Schülern
Prof.
Hilbert Meyers Kompromissformel findet offenbar nur wenig Gehör, er
erteilt der
Monokultur sowohl auf der einen als auch auf anderen Seite eine Absage
und weist
der neuen Schule Auswege aus der Sackgasse (in: Was ist guter
Unterricht?
Berlin 2004). Er setzt auf Methodenvielfalt , die sich aber
stets
gewissen fundamentalen Kriterien unterzuordnen hat: Klare
Strukturierung des Unterrichts,
hoher Anteil echter Lernzeit, inhaltliche Klarheit, individuelles
Fördern,
intelligentes Üben, transparente Leistungserwartungen. Diese Kriterien
weisen
auf einen soliden Unterricht hin, der nichts zu tun hat mit den oben
aufgezeigten und zuhauf in Grundschulen
praktizierten Fehlformen Offenen Unterrichts oder gar mit
Prof. Falko Peschels Forderung,
die „Entscheidung für oder gegen das Lernen“
den Kindern selbst zu überlassen. Nach dessen Vorstellungen von Öffnung
des
Unterrichts soll den Kindern konsequent inhaltlich und methodisch der
größtmögliche Freiraum eingeräumt werden (Falko Peschel.:
Wenn schon, denn schon. Öffnung zwischen Radikalität, Konsequenz und
Illusion.
In: Die Grundschulzeitschrift 1997.).
Kein Zweifel besteht
inzwischen darüber, dass der Öffnung
des Unterrichts gewisse Grenzen gesetzt sind. An die unterschiedlichen
Formen
Offenen Unterrichts müssen Kinder erst altersangemessen herangeführt
werden,
das gilt insbesondere auch für das selbstständige Arbeiten. Gerade für
Kinder
in den ersten Klassen der Grundschule gilt, dass der Unterricht in der
Grundschule nach den vorliegenden wissenschaftlichen Befunden
vorwiegend
traditionell gestaltet werden sollte. Es gibt ebenso keinen Zweifel
daran, dass
das Prinzip der Selbstbestimmung im Offenen Unterricht viele (die
meisten?)
jüngere(n) Kinder in der Grundschule überfordert: Sie sind auf die
Unterrichtsführung
durch die Lehrerin angewiesen.
Wenn Eltern sehen, dass die Grundschullehrerinnen ihrer Kinder einen systematischen, gut strukturierten sowie lehrplan- und leistungsorientierten Unterricht erteilen, der sich zudem einer wohl durchdachten Methodenvielfalt mit frontalem Unterricht, aber auch mit traditionellen offenen Formen - Kreisgespräch, angeleitete Einzel- und Partnerarbeit, angeleiteter Gruppenunterricht, Projektunterricht - verpflichtet fühlt, dürften sie beruhigt sein. Gute Lehrerinnen wissen schon seit Jahrzehnten, dass Unterrichtsformen wie das Kreisgespräch, die angeleitete Einzel- und Partnerarbeit, der angeleitete Gruppenunterricht sowie der Projektunterricht diejenigen für die Grundschule geeigneten Unterrichtsformen sind, die nicht überfordern, die Räume für sinnvolle Individualisierung öffnen und sich als Vehikel eignen, Kindern auch den Erwerb von Schlüsselqualifikationen wie soziales Lernen, Selbständigkeit, Selbstverantwortung und Eigeninitiative zu ermöglichen.
Leider aber hat Frau Prof. Dr. Renate Valtin mit ihrer schon vor Jahren gemachten Äußerung Recht: "Auf der Ebene der grundschulpädagogischen Diskurse tauchen Ergebnisse empirischer Forschung nur in Spurenelementen auf. Auch auf der Ebene der Praxis spielt die Empirie keine entscheidende Rolle .....: alle wichtigen grundschulpädagogischen Entscheidungen (4- oder 6jährige Grundschuldauer, Einschulungsalter, Forderung nach offenem Unterricht und Freiarbeit) sind ohne empirisch abgesicherte Grundlagen getroffen worden."
Schlimm ist, dass
inzwischen kommerzielle Interessen in
unvorstellbarem Ausmaß das Ansehen des solide geführten Offenen
Unterrichts
beschädigt haben. Zur Kritik geben aber auch solche Professoren Anlass,
die
ihre Eitelkeiten nicht überwinden mögen und es vorziehen, - entgegen
dem
fortgeschrittenen Erkenntnisstand ihrer Kollegen - auf überkommenen
unrealistischen Positionen zu beharren.
Offener Unterricht – ein komplexes Thema! Und das macht es erforderlich, im Laufe der Zeit diesen Elternbrief immer wieder um neue Befunde zu ergänzen.
J. Günter Jansen